Merkmale der Artefakte aus Kieselgesteinen
Artefakte aus Kieselgesteinen werden durch zielgerichtete Schläge von einem Gesteinskörper, z.B. von einer Feuersteinknolle gewonnen. Anhand der besonderen Merkmale, die ein solcher intentioneller Schlag am Objekt hinterlässt, ist es möglich, ein Artefakt zu erkennen.
Abschläge, Klingen, Klingenkerne
Am Beispiel eines Klingenkernes und einer Klinge möchte ich zuerst die Fachbegriffe erläutern. Abschläge und Klingen gehören zu den sogenannten Grundformen in der Steingeräteproduktionskette. Durch Modifikation wie Retusche oder Schliff wurden aus diesen Grundformen die Zielprodukte, also Werkzeuge oder Waffen hergestellt. Der Abschlag ist wohl die einfachste Grundform. Er besitzt am Proximalende einen Schlagflächenrest, eine Dorsalseite, eine Ventralseite und ein Distalende. Eine Klinge ist ein Abschlag mit annähernd parallelen Längskanten, der mindestens doppelt so lang wie breit ist.
Die nachfolgenden Erkennungsmerkmale gelten allgemein für alle Abschlagprodukte , egal ob Abschlag oder Klinge.
Produktionsablauf von Feuersteinklingen aus einem Klingenkern
Zeichnung aus: "J.-L. Piel-Desruisseaux (1986)"
a: An einer geeigneten Stelle der Feuersteinknolle wird ein Abschlag abgetrennt und so eine Schlagfläche geschaffen.
b, c: Wenn sich am Rohling kein natürlich vorhandener Leitgrat befindet, muß gegebenfalls die Kernkante präpariert werden.
d: Falls die Kernkante präpariert wurde, handelt es sich bei der ersten geschlagenen Klinge um eine sogenannte Kernkantenklinge, erkennbar an den dorsalseitigen quer geschlagenen Negativen.
e: Die nächste Klinge hat nur noch an einer Seite die Merkmale der Kernkantenpräparation.
f: wenn mehrere Klingen abgebaut wurden (das sind normalerweise wesentlich mehr, als im Bild dargestellt), wird es notwendig, die Schlagfläche neu zu präparieren. Durch eine seitlichen Schlag wird eine sogenannte Kernscheibe oder Kernkappe abgetrennt, und es kann mit der Klingenproduktion fortgefahren werden. Die Klingen werden natürlich um die Dicke der Kernkappe kürzer.
Hier ist das Foto eines Klingenkernes aus Rijckholt-Feuerstein
Oben auf dem Bild ist die Schlagfläche zu sehen. Der Rand dieser Ebene ist der Schlagflächenrand. Einige mm innerhalb des Schlagflächenrandes liegt der Schlagpunkt für die jeweilige Klinge. An dieser Stelle wird unter einem spitzen Winkel zur Schlagfläche mit einem geeigneten Schlaginstrument (weicher Schlagstein, Geweihschlegel, Feuerstein eignet sich hierzu überhaupt nicht) die Klinge abgetrennt.
Die längsseitige Außenfläche nennt man Abbaufläche.
Wo die Negative der bereits abgetrennten Klingen aufeinandertreffen, bilden sich scharfe Kanten, die sogenannten Grate.
Das untere Ende des Klingenkernes wird Kiel genannt.
So sieht die fertiggestellte Klinge aus
Auf der linken Bildseite erkennt man die Dorsalfläche. Das ist ein Teil der ehemaligen Außenfläche, also der Abbaufläche des Klingenkernes. Eine Klinge hat immer einen oder mehrere Dorsalgrate, die sich wie oben erläutert aus dem Produktionsprozess der vorher geschlagenen Klingen ergeben.
Das obere Ende der Klinge, also das Ende, wo der Schlag angesetzt wurde, ist das Proximalende. Gegenüber, unten im Bild, ist das Distalende.
Die Längsseiten der Klingen nennt man Lateralkanten.
Rechts auf dem Foto ist die Ventralseite der Klinge dargestellt. Das ist die Seite, die einst dem Kernstein zugewandt war. Die Ventralfläche ist immer glatt, hat also keine Grate. Aus bruchmechanischen Gründen hat die Ventralseite häufig eine konkave Längswölbung, niemals eine konvexe Längswölbung.
Ein näherer Blick auf die Ventralseite am Proximalende
Auf diesem Bild sehen wir zwei der wichtigsten Merkmale, die ein geschlagenes Artefakt aus Kieselgestein auszeichnen.
Der Schlagflächenrest - nomen est omen - also das Teilchen der Schlagfläche, das sich mit der Klinge vom Kernstein gelöst hat. Wenn der Schlagflächenrest nicht in einem späteren Arbeitsgang entfernt wurde, ist er immer am Proximalende einer Klinge oder eines Abschlages vorhanden.
Der Schlagbuckel oder Bulbus befindet sich, je nach verwendeter Technik stärker oder schwächer ausgeprägt, immer auf der Ventralseite als kleine Erhebung unterhalb des Schlagpunktes.
Manchmal, nicht immer, löst sich oberhalb des Bulbus ein kleiner Abspliss. Er hinterlässt ein kleines Negativ, die sogenannte Schlagnarbe.
Bestimmung der Schlagrichtung
Feuersteinartefakte, die man als Sammler findet, sind oft nur noch bruchstückhaft erhalten. Zur Bestimmung ist es manchmal notwendig, die Herstellung nach zu vollziehen. Interessant ist es, die Richtung, aus der ein Abtrennschlag erfolgte, festzustellen. Dabei helfen die Wallnerlinien oder Schlagwellen. Sie bilden sich durch Interferenzerscheinungen der Bruchwellen im nicht vollkommen homogenen Gesteinskörper als Überlagerungen aufeinanderfolgender Bruchfronten. Die Wallnerlinien sind immer konzentrisch zum Schlagpunkt angeordnet, die konkave Seite der Wallnerlinien zeigt also zum Schlagpunkt.
Lanzettsprünge
Sie können entstehen, wenn sich beim Abtrennen eines Abschlags die Richtung der Hauptspannung dreht. Daraus resultieren Sekundärrißssflächen, die Lanzettsprünge. Die Richtung dieser Sprünge weist immer zum Schlagpunkt hin.
Schlagunfälle
Nicht immer läuft die Abtrennung einer Grundform ohne Probleme ab. Je nach Geschick und Erfahrung des Steinschlägers oder nach Qualität des Rohmaterials können die Zielprodukte mehr oder weniger vom Wunschergebnis abweichen. Eine ideale Grundform kann nur entstehen, wenn man den Schlag mit der richtigen Energie im richtigen Schlagwinkel ausführt.
Auf der Zeichnung nach J. Tixier et. al. sind die wichtigsten Schlagunfälle abgebildet: 1. eine sogenannte Hinge oder auch Steckenbleiber. Der Fehler tritt auf, wenn der Schlag mit zu wenig Energie durchgeführt wurde. 2. und 3. Languette-Fehler. Sie passieren, wenn zu viel Energie eingeleitet wird. 4. Ein parasitärer Nacelle-Abschlag zwischen gegenüberliegenden Languettebrüchen. Hier kann es sich um eine besondere Form eines Biegebruchs handeln. Tritt häufig an zerbrochenen Beilklingen auf. 5. Kernfussklinge in Verbindung mit einem Nacellebruch. Diese Kombination ist mir in der Praxis noch nie begegnet. Kernfussklingen sind hingegen bei direkt hart geschlagenen Klingen, besonders im hiesigen Mesolithikum, recht häufig.
Ein weiterer Schlagunfall ist der Siretbruch, bei dem die Grundform in Schlagrichtung quer bricht, was manchmal mit einem Stichelschlag verwechselt wird. Er kann passieren, wenn auf der Schlagfläche nicht nur ein einziger, sondern zwei dicht beieinander liegende Auftreffpunkte vorhanden sind. Dann wird beim Auftreffen auf den ersten Punkt die Grundform gelöst und einen Augenblick später beim zweiten Treffer diese gespalten. Der Unfall tritt vorzugsweise bei direkt hartem Abbau auf.